Montag, 17. Juni 2019

Hornveilchen


Eines Tages war es einfach da: mitten im steinernen Meer meiner Terrasse reckte ein Hornveilchen sein kleines Gesicht empor. Wie gehisste Segel erhoben sich fünf blassblaue Blütenblätter über dem winzigen, buschigen Grün des Blattwerk, das, wie ein Schiffskorpus auf See, direkt auf dem Stein lag. Es wuchs aus einer der Zementfugen. Ein kleines Leben, hingeweht vom Wind, fand hier so viel Nahrung, dass aus einem Samen diese winzige, und doch so starke Pflanze wachsen konnte. Es wuchs da ganz allein; die Artgenossen, mehr als zwei Meter entfernt, standen dicht an dicht in Pflanzgefäßen, stämmige, üppige Gesellen, wohlgenährt und groß gewachsen, begleitet von Vergissmeinnicht und – in einem höheren Topf – von einer Ballonblume. Ein Schlitzahorn, eine als Stämmchen gezogene Zypresse und ein Säulenwacholder, alle in großen Terrakottakübeln, begrenzen die Terrasse. Für den kleinen Segler mussten selbst die Artgenossen Riesen sein. Sein Keimen und Heranwachsen hatte ich gar nicht bemerkt, erst jetzt, als er sein Segel voll gehisst hatte, fiel er mir auf.
Ich begrüßte ihn und gewöhnte mir an, jeden Tag nach ihm zu sehen und ein paar Worte zu ihm zu sprechen, hin und wieder gab ich ihm einen Tropfen Wasser. Seine Beharrlichkeit rührte mich und es ging ein Strahlen von dem Gesichtchen aus. Sein gelber Mittelpunkt war von tiefem Blau gerahmt und der daraus erwachsende, noch dunklere Strahlenkranz erinnerte an ein Netz von Lachfältchen in einem runden Gesicht. Ob eine Pflanze einsam sein konnte? Fürchtete sie sich manchmal? Und wie kommunizieren Hornveilchen miteinander? Nahm es mich wahr? Der kleine Segler behielt sein Lächeln bei und schwieg sich aus. Und dann war er plötzlich weg. Nichts war geblieben, nicht etwa, dass er abgeblüht hätte, nein, die ganze winzige Pflanze war verschwunden. Kein Blättchen mehr, kein Stielansatz war zu sehen – als hätte es sie nie gegeben. Ich starrte die Fugen an und hätte nicht einmal mehr mit Bestimmtheit sagen können, in welcher genau sie gewachsen war. Ein kleines, kurzes Leben.

Lyrische Form:

Der Wind hat ein kleines Leben
Auf Schiefer zum Blühen gebracht;
Ein Veilchen hisst seine Segel,
Es reckt sich zur Sonne und lacht.
Sonja Meier
20.04.19

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