Eines Tages war es einfach da:
mitten im steinernen Meer meiner Terrasse reckte ein Hornveilchen sein kleines
Gesicht empor. Wie gehisste Segel erhoben sich fünf blassblaue Blütenblätter
über dem winzigen, buschigen Grün des Blattwerk, das, wie ein Schiffskorpus auf
See, direkt auf dem Stein lag. Es wuchs aus einer der Zementfugen. Ein kleines
Leben, hingeweht vom Wind, fand hier so viel Nahrung, dass aus einem Samen
diese winzige, und doch so starke Pflanze wachsen konnte. Es wuchs da ganz
allein; die Artgenossen, mehr als zwei Meter entfernt, standen dicht an dicht
in Pflanzgefäßen, stämmige, üppige Gesellen, wohlgenährt und groß gewachsen,
begleitet von Vergissmeinnicht und – in einem höheren Topf – von einer
Ballonblume. Ein Schlitzahorn, eine als Stämmchen gezogene Zypresse und ein
Säulenwacholder, alle in großen Terrakottakübeln, begrenzen die Terrasse. Für
den kleinen Segler mussten selbst die Artgenossen Riesen sein. Sein Keimen und
Heranwachsen hatte ich gar nicht bemerkt, erst jetzt, als er sein Segel voll
gehisst hatte, fiel er mir auf.
Ich begrüßte ihn und gewöhnte mir
an, jeden Tag nach ihm zu sehen und ein paar Worte zu ihm zu sprechen, hin und
wieder gab ich ihm einen Tropfen Wasser. Seine Beharrlichkeit rührte mich und
es ging ein Strahlen von dem Gesichtchen aus. Sein gelber Mittelpunkt war von
tiefem Blau gerahmt und der daraus erwachsende, noch dunklere Strahlenkranz erinnerte
an ein Netz von Lachfältchen in einem runden Gesicht. Ob eine Pflanze einsam
sein konnte? Fürchtete sie sich manchmal? Und wie kommunizieren Hornveilchen
miteinander? Nahm es mich wahr? Der kleine Segler behielt sein Lächeln bei und
schwieg sich aus. Und dann war er plötzlich weg. Nichts war geblieben, nicht
etwa, dass er abgeblüht hätte, nein, die ganze winzige Pflanze war
verschwunden. Kein Blättchen mehr, kein Stielansatz war zu sehen – als hätte es
sie nie gegeben. Ich starrte die Fugen an und hätte nicht einmal mehr mit
Bestimmtheit sagen können, in welcher genau sie gewachsen war. Ein kleines,
kurzes Leben.
Lyrische Form:
Der Wind hat ein kleines Leben
Auf Schiefer zum Blühen gebracht;
Ein Veilchen hisst seine Segel,
Es reckt sich zur Sonne und lacht.
Auf Schiefer zum Blühen gebracht;
Ein Veilchen hisst seine Segel,
Es reckt sich zur Sonne und lacht.
Sonja Meier
20.04.19
20.04.19
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