Donnerstag, 26. Oktober 2017

Ich trage sie in mir

Ich trage sie in mir
die ausgemergelten Russenleiber,
an ihrem Grundstück vorbeigetrieben,
am kreuzgerechten Jägerzaun,
der den zerrissenen Lumpen,
so man denn günstig genug hindurchkuckte,
zeitweilig die Löcher zu stopfen vermochte.

Ich trage ihn in mir
den hungrigen Blick,
außer sich vor Entbehrung,
die rissigen Lippen ausgetrocknet,
dem Verdursten nah,
die Hände schwielig und voller Erdkrusten,
da sie lange schon keinen Speck mehr gehalten haben.

Ich trage sie in mir,
die feuchtkalt zitternden Kinderhände
die Angst vor den befremdlichen Klauen,
wie sie gierig nach den kalt gewordenen Kartoffeln greifen,
nach dem Geschenk aus einer verborgenen Kinderhand,
vom sauberen Mittagessen heimlich abgezwackt und
ihnen in den steinigen deutschen Dreck geworfen.

Ich trage ihn in mir,
den Schrecken,
wenn Hungrige hechten
und Gewehre sie dafür niederstrecken,
ebenso den Blick des wehrlosen Kindes,
der sich an eine Situation saugt,
die niemals nie für Kinder taugt.


„Do wenn se oana buckt hot,
und des hot oana g`sehn,
dann hot der rechte Dresch kriagt
oda se hobn d´n glei daschossn.“

Hohle Wangen,
Eingefallene Gesichter,
leichenblass die Haut,
halbverweste Leiber,
aschfahle Knochengerüste
in schlackernder Sträflingsmontur,
mit verlausten Flusen auf dem Kopf.

„Und wenn oana liegnbliebn is`,
hobm`s `n eifach liegnlossn auf da Stra* do.“

Ich schreite dahin,
auf dem Trottoir des Entsetzens,
in Spazierlaune und weihnachtlichem Geschenkehunger
entlang am Jägerzaun meiner Großeltern,
nimmersatt konsumierende Urenkel
an sauberen Akademikerhänden,
die Gedenken mit Füßen treten,
ja nichtsahnend schänden.



* „Da wenn sich einer gebückt hat,
   und das hat einer [von den Aufsehern] gesehen,
   dann hat der starke Schläge bekommen
   oder sie haben ihn gleich erschossen.“

** „Und wenn einer liegengeblieben ist,
     haben sie ihn einfach liegengelassen auf der Streu.“
     → Nicht „Straße“ ist damit gemeint, sondern der mit Einstreu bedeckte Boden eines Schuppens
     oder Stalls bzw. nach bäuerlicher Redewendung „ebenso achtlos hingestreut, wie man Stroh

     auf die Erde wirft“.

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