Donnerstag, 26. Oktober 2017

Traumreise

Traumreise
1. Schlaf, mein Kind, dein Tag war lange.
Leg den Kopf aufs weiche Kissen.
Schließ die Augen, werde ruhiger,
deinem Bett kannst du vertrauen.
Fürchte nicht die schlimmen Träume,
die nach deiner Seele greifen,
denn dein Schlaf ist eine Pforte
zu dem Reich, wo Morpheus herrscht.



2. Morpheus ist der Gott der Träume,
sein Palast ist bunt und prächtig.
Alle Wunder dieser Erde
finden sich in seinen Sälen.
Doch es gibt auch dunkle Kammern,
bodenlose, schwarze Löcher,
Wesen, die sich ständig wandeln
und dich in die Irre führ’n.

3. Tritt herein in die Gemächer!
Morpheus heißt dich sehr willkommen.
Traue ihm, dass er dich sicher
auf dem ganzen Weg begleitet.
Im Palast ist alles möglich,
freu dich an den bunten Bildern.
Und der wachen Welt Gesetze
bleiben vor dem großen Tor.

4. Sieh nur, zwischen diesen Säulen
ist ein Tor, das führt nach draußen.
Duft von Blumen, Kräutern, Moosen
lockt dich sanft über die Schwelle.
Weiches Gras unter den Füßen,
Farn, der deine Wade streichelt,
alles wächst entfesselt, wuchernd,
denn hier herrscht der grüne Mann.

5. Setz dich auf die Bohnenranke
und du wirst emporgetragen
durch die Äste, Zweige, Blätter,
die nach deinen Haaren fassen.
Immer höher, immer grüner
wird die Reise durch den Dschungel.
Riesengroße Venusfallen
locken dich mit süßem Duft.

6. Und der grüne Mann erwartet
dich in seiner grünen Hölle.
Viele Augen blicken hungrig
auf dein weißes Fleisch, das zittert.
Doch selbst, wenn sie dich jetzt fressen,
wirst du Teil vom großen Kreislauf.
Etwas schlingt sich zäh und klebrig
dir um deinen bloßen Hals.

7. Deinen Schrei ersticken Blätter,
die in Mund und Nase wachsen.
Du versuchst, den Trieb zu kappen,
der die Luft dir nimmt zum Atmen.
Todesangst verleiht dir Kräfte,
du zerreißt die grünen Fesseln
und die trügerische Ranke
lässt dich fallen, und du fällst.

8. Deine Lider flattern ängstlich,
doch bevor du keuchend hochschreckst,
fangen Morpheus’ sanfte Arme
deine aufgewühlte Seele.
Und er wiegt dich, murmelt leise:
„Bleib doch noch ein wenig bei mir.“
Und er führt dich, wortlos singend
immer tiefer in sein Reich.

9. Ihr durchschreitet hohe Hallen,
an der Decke blinken Sterne.
Götter, Narren, Ungeheuer
kreuzen grüßend eure Wege.
Doch ein Eishauch lässt dich frösteln -
Sieh, dort fliegt die Fee des Nordens!
Und du fliehst vor ihrem Atem
hin zu einem wärm’ren Ort.

10. Hier in diesem kleinen Zimmer
flackert im Kamin ein Feuer.
Dankbar hältst du deine Hände
An die wohlig warmen Flammen.
Apfelbaumholz knackt und knistert,
füllt den Raum mit Wohlgerüchen,
und du trittst so nah heran, bis
dein Gesicht vor Hitze glüht.

11. Plötzlich - ein Stück Glut fällt brennend
auf den weichen wollnen Teppich,
frisst sich blitzschnell immer weiter,
bis der Vorhang steht in Flammen.
Gierig lodern Feuerzungen,
lecken heiß an deinen Kleidern,
und du suchst durch dicke Schwaden
panisch, sinnlos nach der Tür.

12. Stühle, Tische, Wände brennen,
Hitze dringt in deine Poren.
Flammen prasseln, fauchen, brüllen,
In der Luft sind Ascheflocken.
Selbst im neunten Kreis der Hölle
gibt es keine größ’re Hitze.
Nichts besteht vor diesem Feuer,
es frisst alles, alles auf!

13. Auch dein Leib gehört den Flammen,
du vergehst, verbrennst, verloderst.
Schicht um Schicht wird dir genommen,
nichts bleibt von der äuß’ren Hülle
bis dein Kern beginnt zu schmelzen.
Nur ein kleines Häuflein Asche
ist, was von dir übrig bleibt.

14. Als der Brand sich selbst verzehrt hat,
letzte Funken sind erloschen,
dringt durch das geborst’ne Fenster
frisch und kühl ein leiser Windhauch.
Und er tanzt durch die Ruinen,
übermütig, stärker werdend,
wirbelt hoch das Häuflein Asche,
nimmt dich mit auf seiner Bahn.

15. Immer höher durch die Lüfte
trägt dein Wind dich, zärtlich säuselnd.
Du bist überall und nirgends,
schwerelos der Strömung folgend.
Über dir der weite Himmel,
er beschirmt das Reich der Träume,
dessen Grenzen sich verbergen
hinter dunstig zartem Blau.

16. Und die Brise wird zum Sturmwind,
reißt dich mit, unbändig lachend.
Eine wilde, große Sehnsucht
lässt dich kreiseln, trudeln, fliegen
kreuz und quer über den ganzen
leuchtend bunten Flickenteppich.
Hier, spürst du, ist alles möglich,
und du fühlst dich endlich frei.

17. Sanfter wird dein Freund, der Windhauch,
lässt dich sacht zur Erde gleiten,
und in sinkenden Spiralen
fühlst du dich hinabgetragen.
Vor den Toren des Palastes
wartet schon der Gott der Träume.
Er umarmt dich weich und dunkel
und er küsst dich auf die Stirn.

18. „Komm, mein Kind, dein Traum war lange,
schon sinkt er ins Halb-Vergessen.
Alle Wesen, Wunder, Schrecken
schwinden hin im Licht des Morgens.
Atme tiefer, streck dich, gähne,
roll dich wohlig auf die Seite.
Meine Zeit ist nun zu Ende.

Dann auf bald - bis morgen Nacht!“

Pia Winkler

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