Traumreise
1. Schlaf, mein
Kind, dein Tag war lange.
Leg den Kopf
aufs weiche Kissen.
Schließ die
Augen, werde ruhiger,
deinem Bett
kannst du vertrauen.
Fürchte nicht
die schlimmen Träume,
die nach deiner
Seele greifen,
denn dein
Schlaf ist eine Pforte
zu dem Reich,
wo Morpheus herrscht.
2. Morpheus ist
der Gott der Träume,
sein Palast ist
bunt und prächtig.
Alle Wunder
dieser Erde
finden sich in
seinen Sälen.
Doch es gibt
auch dunkle Kammern,
bodenlose,
schwarze Löcher,
Wesen, die sich
ständig wandeln
und dich in die
Irre führ’n.
3. Tritt herein
in die Gemächer!
Morpheus heißt
dich sehr willkommen.
Traue ihm, dass
er dich sicher
auf dem ganzen
Weg begleitet.
Im Palast ist
alles möglich,
freu dich an
den bunten Bildern.
Und der wachen
Welt Gesetze
bleiben vor dem
großen Tor.
4. Sieh nur,
zwischen diesen Säulen
ist ein Tor,
das führt nach draußen.
Duft von
Blumen, Kräutern, Moosen
lockt dich
sanft über die Schwelle.
Weiches Gras
unter den Füßen,
Farn, der deine
Wade streichelt,
alles wächst
entfesselt, wuchernd,
denn hier
herrscht der grüne Mann.
5. Setz dich
auf die Bohnenranke
und du wirst
emporgetragen
durch die Äste,
Zweige, Blätter,
die nach deinen
Haaren fassen.
Immer höher,
immer grüner
wird die Reise
durch den Dschungel.
Riesengroße
Venusfallen
locken dich mit
süßem Duft.
6. Und der
grüne Mann erwartet
dich in seiner
grünen Hölle.
Viele Augen
blicken hungrig
auf dein weißes
Fleisch, das zittert.
Doch selbst,
wenn sie dich jetzt fressen,
wirst du Teil
vom großen Kreislauf.
Etwas schlingt
sich zäh und klebrig
dir um deinen
bloßen Hals.
7. Deinen
Schrei ersticken Blätter,
die in Mund und
Nase wachsen.
Du versuchst,
den Trieb zu kappen,
der die Luft
dir nimmt zum Atmen.
Todesangst
verleiht dir Kräfte,
du zerreißt die
grünen Fesseln
und die
trügerische Ranke
lässt dich
fallen, und du fällst.
8. Deine Lider
flattern ängstlich,
doch bevor du
keuchend hochschreckst,
fangen
Morpheus’ sanfte Arme
deine
aufgewühlte Seele.
Und er wiegt
dich, murmelt leise:
„Bleib doch
noch ein wenig bei mir.“
Und er führt
dich, wortlos singend
immer tiefer in
sein Reich.
9. Ihr
durchschreitet hohe Hallen,
an der Decke
blinken Sterne.
Götter, Narren,
Ungeheuer
kreuzen grüßend
eure Wege.
Doch ein
Eishauch lässt dich frösteln -
Sieh, dort
fliegt die Fee des Nordens!
Und du fliehst
vor ihrem Atem
hin zu einem
wärm’ren Ort.
10. Hier in
diesem kleinen Zimmer
flackert im
Kamin ein Feuer.
Dankbar hältst
du deine Hände
An die wohlig
warmen Flammen.
Apfelbaumholz
knackt und knistert,
füllt den Raum
mit Wohlgerüchen,
und du trittst
so nah heran, bis
dein Gesicht
vor Hitze glüht.
11. Plötzlich -
ein Stück Glut fällt brennend
auf den weichen
wollnen Teppich,
frisst sich
blitzschnell immer weiter,
bis der Vorhang
steht in Flammen.
Gierig lodern
Feuerzungen,
lecken heiß an
deinen Kleidern,
und du suchst
durch dicke Schwaden
panisch,
sinnlos nach der Tür.
12. Stühle,
Tische, Wände brennen,
Hitze dringt in
deine Poren.
Flammen
prasseln, fauchen, brüllen,
In der Luft
sind Ascheflocken.
Selbst im
neunten Kreis der Hölle
gibt es keine
größ’re Hitze.
Nichts besteht
vor diesem Feuer,
es frisst
alles, alles auf!
13. Auch dein
Leib gehört den Flammen,
du vergehst,
verbrennst, verloderst.
Schicht um
Schicht wird dir genommen,
nichts bleibt
von der äuß’ren Hülle
bis dein Kern
beginnt zu schmelzen.
Nur ein kleines
Häuflein Asche
ist, was von
dir übrig bleibt.
14. Als der
Brand sich selbst verzehrt hat,
letzte Funken
sind erloschen,
dringt durch
das geborst’ne Fenster
frisch und kühl
ein leiser Windhauch.
Und er tanzt
durch die Ruinen,
übermütig,
stärker werdend,
wirbelt hoch
das Häuflein Asche,
nimmt dich mit
auf seiner Bahn.
15. Immer höher
durch die Lüfte
trägt dein Wind
dich, zärtlich säuselnd.
Du bist überall
und nirgends,
schwerelos der
Strömung folgend.
Über dir der
weite Himmel,
er beschirmt
das Reich der Träume,
dessen Grenzen
sich verbergen
hinter dunstig
zartem Blau.
16. Und die
Brise wird zum Sturmwind,
reißt dich mit,
unbändig lachend.
Eine wilde,
große Sehnsucht
lässt dich
kreiseln, trudeln, fliegen
kreuz und quer
über den ganzen
leuchtend bunten
Flickenteppich.
Hier, spürst
du, ist alles möglich,
und du fühlst
dich endlich frei.
17. Sanfter
wird dein Freund, der Windhauch,
lässt dich
sacht zur Erde gleiten,
und in
sinkenden Spiralen
fühlst du dich
hinabgetragen.
Vor den Toren
des Palastes
wartet schon
der Gott der Träume.
Er umarmt dich
weich und dunkel
und er küsst
dich auf die Stirn.
18. „Komm, mein
Kind, dein Traum war lange,
schon sinkt er
ins Halb-Vergessen.
Alle Wesen,
Wunder, Schrecken
schwinden hin
im Licht des Morgens.
Atme tiefer,
streck dich, gähne,
roll dich
wohlig auf die Seite.
Meine Zeit ist
nun zu Ende.
Dann auf bald -
bis morgen Nacht!“
Pia Winkler
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